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Hochsensibel - Emotionen ohne Schutzschild

Ich fühle, also lebe ich

Hochsensibel zu sein, kann Segen und Fluch zugleich darstellen. Man ist verwundbarer, man hat kein natürliches "Schutzschild", das einen vor zu vielen Reizen schützt, man nimmt alles extremer wahr, man fühlt mehr. Ob das schlimm ist? Nein, ich würde sagen, es ist anders. Anders bedeutet nicht besser und nicht schlechter, sondern einfach nur anders. Das Wort "anders" beinhaltet keine Wertung.

 

Das Leben ist unberechenbar. Kein Tag ist wie der andere. Es gibt zahlreiche Situationen, durch die man sich hindurchkämpfen muss. In manchen ist es positiv und hilfreich hochsensibel zu sein und in anderen steht man sich dadurch selbst im Weg. Das ist ähnlich wie wenn man die Frage stellt, ob es besser ist weiblich oder männlich zu sein. Das kann man nicht pauschal beantworten, denn es kommt immer auf die Sachlage und vielleicht - oder sogar ganz sicher - auch auf die eigene Persönlichkeit an. Wenn ich selbstbewusst auftrete und mit mir im reine bin, dann strahle ich das auch nach außen aus. Wenn ich mich selbst verachten oder gar hasse, dann strahle ich das ebenso aus.

 

Wenn ich mit mir selbst nicht klarkomme, wie soll mein Umfeld auf mich reagieren?

Es ist nicht einfach sensibler zu sein. Ein wenig kann man das vielleicht mit einer Schwäche vom Immunsystem vergleichen. Man hat keinen Schutz. Der Körper schafft es nicht alleine, sich gegen Krankheitserreger, sprich zu viele Reize von außen, zu schützen. Man muss eigenständig auf sich achten. Man lernt einzuschätzen, was einem guttut und was man besser meidet. Man entwickelt Taktiken. Jemand mit einem schwachen Immunsystem trägt zum Beispiel einen Mund- Nasenschutz und jemand, der mehr fühlt, lernt, wie er sich abgrenzen kann. Das, was für andere Menschen selbstverständlich ist, muss man sich in kleinen Schritten selbst antrainieren. Das kostet Zeit und Nerven, aber es geht.

 

Umgang in "Extremsituationen"

Im normalen Alltag hat man oft die Chance, unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen. Man kann sie meiden, doch im Beruf geht das manchmal nicht. Besonders, wenn man im Beruf des Bestatters tätig ist ...

Natürlich könnte man jetzt darüber diskutieren, ob das der richtige Job für jemand hochsensiblen ist oder warum man sich überhaupt solche Arbeiten aussucht und so weiter. Deshalb kürze ich die Diskussion ab:  Ich arbeite als Bestattungshelfer, ich tue das freiwillig und ich mag ich Arbeit.

 

Der Umgang mit dem Thema Tod ist nie einfach. Für niemanden. Auch das Thema Trauer ist wortwörtlich schwer. Man spürt das Gewicht im Raum. Oder wie ich letztes Wochenende gelernt habe "da ist ein unsichtbarer Elefant im Raum". Dieser Vergleich passt. Es ist etwas gewaltiges da, was man nicht sieht, nicht so einfach loswird und was einen zu ersticken droht.

 

Den Elefanten loswerden

Was tut man dagegen? Ganz einfach, nichts. Ja, das klingt merkwürdig, aber man kann manchmal nichts anderes tun, als die Situation oder das Gefühl auszuhalten. Wenn ich bei einer Beerdigung anwesend bin und alle weinen, würde ich manchmal gerne mitweinen, weil mir der Trauer der Menschen nahe geht. Ich kann nichts dagegen tun, ich spüre ihre Gefühle, ich nehme den "Elefanten" im Raum wahr und ich kann ihn nicht nach draußen schieben.

 

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich mache einen auf "Vollprofi" und grenze mich radikal ab. Das bedeutet ich spüre gar nichts, mir ist es krass ausgedrückt scheißegal, was um mich herum geschieht. Oder alternativ ich halte die Gefühle aus. Ich lasse es an mich heran, ich fange nicht an zu weinen (ganz so viele Gefühle lasse ich doch nicht an mich heran) und zeige Empathie. 

 

Unterschiedliche Wege

Ich persönlich habe mich für den zweiten Weg entschieden. Wobei ich dazu sagen muss, dass ich danach auch relativ leicht abschließen kann. Ich bin kein langer Grübler. Sobald die Beerdigung oder ein sonstiges Ereignis zu Ende ist, lasse ich die Emotionen los. Würde ich das nicht können, müsste ich den Job wechseln. Ansonsten würde ich mich auf Dauer selbst zerstören.

 

Mein persönliches Fazit: Ich lebe. Emotionen, Trauer gehören zum Leben dazu. Würde ich mich abkapseln und alle Emotionen verdrängen, wäre das erstens nicht mehr ich und nicht mehr authentisch und zweitens würde es sich für mich nicht mehr nach Leben anfühlen.

Ich habe mir selbst das Ziel gesetzt, wenn mich irgendwann der Tod eines Menschen kalt lässt und mich schreckliche Ereignisse nicht mehr berühren, dann höre ich auf in dem Beruf zu arbeiten. Zu viele Emotionen können wehtun, doch zu wenig oder gar nichts mehr fühlen ist noch schlimmer. Ich fühle, weil ich lebe, weil ich ich bin und weil ich den Mut habe es zuzulassen.

 

Eine Universallösung wie jeder mit Emotionen umgehen soll, gibt es nicht. Jeder muss seine Weg finden, wie er oder sie sich wohlfühlt, wie er oder sie es am Besten verkraftet und was guttut. Im "Schulbuch" steht, dass man Distanz wahren soll und sich abgrenzen, doch das bedeutet nicht, dass es der einzig richtige Weg ist.

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