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Eine magische Stallgeschichte

Die Hexenbesentheorie

»Kehrst du bitte noch den Hof?« Die Stimme meiner Reitlehrerin riss mich aus den Gedanken. Ich war gerade dabei mein Pflegepferd abzusatteln. Da es ein recht kühler Nachmittag war, hatte ich es etwas eilig nachhause zu kommen. Nicht weil ich nicht gerne im Stall war oder mich vor der Arbeit scheute, sondern weil es Anfang Januar verdammt kalt war.
An Weihnachten hätte ich mir gerne Schnee gewünscht, das wäre schön gewesen, doch jetzt, wer brauchte jetzt noch Schnee? Sonne, Strand und Meer, das wäre genial. Aber Glatteis, vereiste Autoscheiben und Temperaturen unter null Grad Celsius waren bäh. Besonders wenn man dazu gezwungen war, sich draußen aufzuhalten.
»Ja klar, kann ich machen«, rief ich zurück, obwohl ich ihr viel lieber »nein, mir ist kalt, ich will nachhause, mache es selbst«, geantwortet hätte. Leider sagte ich viel zu oft Ja, obwohl alles in meinem Kopf Nein schrie ... Ich war eindeutig zu gutmütig und zu nett.

 

Ich legte den Sattel in der Sattelkammer über die dafür vorgesehene Halterung, danach verstaute ich die Trense. »Bingo«, mein Pflegepferd hatte ich zuvor schon in seine, mit frischem Stroh eingestreute, Box verbracht. Mein nächster Schritt war, in die Vorratskammer, die an die Sattelkammer angrenzte, zu gehen und mir dort einen Besen zu holen, um den Hof zu kehren.

 

Mit einem Seufzer betätigte ich den Lichtschalter, um die dunkle Kammer zu erhellen. Die Glühbirne an der Decke flackerte erst, dann tauchte sie den Raum in ein dämmriges Licht. Ich schritt auf die Wand zu, an der die Besen gelagert wurden. Kurz davor blieb ich stehen. »Äh Karina«, so hieß meine Reitlehrerin, »Wo ist der Besen?«

»Warum?« Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie inzwischen ebenfalls in der Vorratskammer angekommen war, weshalb ich erschrocken zusammenzuckte, als sie nach dem Grund fragte.
»Weil dort kein Besen steht«, antwortete ich unsicher.

 

 

»Da stehen doch fünf ganze Besen«, korrigierte sie meine Aussage.
Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Ja, diese bescheuerten Hexenbesen mit denen man stundenlang kehren muss. Ich will den normalen Schubbesen.«
Empört schnalzte Karina mit der Zunge. »Was ist denn das für ein Ton?«
»Entschuldigung«, bat ich sie um Verzeihung, »Aber ich kann die Hexenbesen überhaupt nicht leiden. Ich komme mit ihrer Handhabung nicht zurecht.«
»Dann hast du noch nicht den richtigen Besen gefunden«, entgegnete meine Reitlehrerin kühl.

»Hä?« Ich verstand zwar, was sie sagte, jedoch konnte ich mir darauf keinen Reim machen. Die fünf Hexenbesen an der Wand waren in meinen Augen alle gleich. Gut, der eine hatte etwas längere Borsten, der andere kürzere, der eine war breiter gefächert, der andere schmäler, aber was machte das für einen Unterschied?
»Nicht Hä sagen, sondern den richtigen Besen auswählen«, trieb sie mich an.
»Ich habe schon versucht, mit ihnen zu kehren«, klärte ich sie auf. »Mehrfach! Und ich habe auch schon verschiedene Besen ausgewählt. Daran liegt das Problem nicht.«

»Damit hast du Recht«, bestätigte sie mich. »Das Problem liegt nicht am Besen. Und nein, es liegt auch nicht an dir, sondern es hat mit der mangelnden Verbindung zwischen euch beiden zu tun.«
Die Falten auf meiner Stirn wurden tiefer. Sie sprach in Rätseln.
»Du darfst dir nicht den Besen aussuchen, der Besen sucht dich aus«, löste sie ihre Erklärung auf, wobei sich für mich noch nichts auflöste. Ich stand nach wie vor auf dem Schlauch.
»Schaue dir die Besen an.«
Ich tat wie mir geheißen.

»Jetzt schließe deine Augen.«
Zögerlich schloss ich die Augenlider.
»Welchen Besen siehst du?«
Fast hätte ich mit »gar keinen, ich habe schließlich die Augen geschlossen«, geantwortet, doch bevor das erste Wort über meine Lippen kam, erschien ein Bild vor meinem geistigen Auge. Ich sah einen schmalgefächerten Besen, der mit rotem Band gebunden war und leicht abgeschrägte Borsten besaß. Er sah stark mitgenommen aus.
Ich öffnete meine Augen und suchte nach dem Exemplar, das ich gesehen hatte. Es stand rechts außen. Vorsichtig deutet ich darauf.
»Den habe ich gesehen, aber das kann nicht sein. So wie der aussieht, kehrt der nichts mehr weg.«
Karina warf mir einen erbosten Blick zu. »Wenn du so unfreundlich zu ihm bist, kehrt er nicht, du musst nett mit ihm umgehen. Er arbeitet für dich, dafür hat er ein paar freundliche Worte und Pflege verdient.«
Ich grinste. So verrückt konnte nur meine Reitlehrerin sein. Als ob der Stock mit Borsten Gefühle hätte. An solche Märchen glaubte ich nicht!
Da ich ihr allerdings den Spaß lassen wollte, spielte ich mit. Was hatte ich zu verlieren? Ich nahm den Besen, ging auf den Hof hinaus und begann zu kehren.

 

Bereits bei den ersten Zügen bemerkte ich etwas Seltsames. Meine Hände befanden sich zwar am Holzstiel, aber trotzdem entwickelte der Besen eine Art Eigenleben. Ich musste mich kaum anstrengen, um den Hof zu säubern. Der Besen erledigte die Arbeit von alleine. Eine logische Erklärung dafür fand ich nicht. Der Besen sah nicht gut aus, ich hasste Hexenbesen und es gab wirklich einiges, was es zusammenzukehren galt. Hätte mich zuvor jemand gefragt, wie lange ich dafür brauchte, hätte ich »mindestens zehn Minuten« geantwortet. Doch nun war ich in weniger als der Hälfte der Zeit fertig.
Stolz schaute Karina mir bei meiner Arbeit zu. Als ich die letzten Reste beseitigte, fragte sie mich: »Und, glaubst du mir jetzt, dass nicht jeder Besen gleich ist? Jeder Besen sucht sich seine Leute aus, die mit ihm umgehen können. Nicht anders herum.«

 

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